Die 1968er: Eine Vorwärtsbewegung
Kritischer Blick und positive Bilanz beim siebenten Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte"
ST. PÖLTEN – Der Kunst- und Kulturhistoriker Hannes Etzlstorfer (Jahrgang 1959), die Theologin und Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner (Jahrgang 1944) und der Schriftsteller Peter Turrini (Jahrgang 1944) waren die Gäste beim siebenten Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte“ im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich. Nach einer Begrüßung von Benedikt Vogl, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hauses, diskutierte die lebhafte Runde im Gespräch mit Reinhard Linke, ob sich der Marsch durch die Institutionen, der auch in Österreich im Mai 1968 begann, gelohnt hat.
„Ich habe ganz unrevolutionär in einer Bimsstein-Fabrik gearbeitet und davon geträumt, von meinen Werken zu leben. Die Verlage haben gesagt, ich solle in der Bimssteinfabrik bleiben“, so Peter Turrini über seine Ausgangssituation im Mai 1968. Seinen ersten Gruppensex mit vier Männern und vier Frauen in einem Bett beschreibt er als „misslungen und schön“. Er war überzeugt, dass es die Mauer des Schweigens von Eltern und Lehrern zu durchbrechen galt: „Jede Frage war eine Irritation, weil es um den Wiederaufbau ging.“ Schon damals war ihm aber auch klar, dass Otto Mühl nicht den richtigen Weg ging und er verließ die Kommune nach sechs Monaten: „Ich wollte meine Qualen an der Kunst und nicht an den Menschen abarbeiten.“ Auf Mitstreiter habe er nie gewartet: „Ich habe mich nie gefragt, warum die anderen nicht aufgebracht sind, sondern: Bin ich aufgebracht genug?“ Ohne die Revolution in Frage zu stellen, erinnerte Turrini daran, dass der revolutionäre Tatendrang leider auch vor dem Leben der Menschen nicht Halt machte und erinnerte an die Terrorakte dieser Zeit.
„Als Niederösterreichische Landpomeranze in Wien hatte ich nicht das Glück, Schulfreundinnen zu haben“, schildert Rotraud Perner ihren Einstieg in die Szene, in der sich die Revolution abspielte. Über ihre wechselnden Beziehungen kam sie in die Kreise des Café Savoy, in dem Otto Mühl Hof hielt. Vieles, was damals passiert ist, kann sie heute analytisch verstehen, wenn auch nicht gutheißen. Zur so genannten „Uni-Ferkelei“ meint sie: „Ich hätte nicht mitgemacht und hatte auch kein Verständnis dafür.“ Um zu schockieren und Aufsehen zu erregen, gäbe es andere Wege. Allgemein wäre die Bedeutung von vielen Dingen erst später klar geworden: „Was damals gefehlt hat, waren Erklärungen.“ Den Verdienst der 1968er-Bewegung sieht sie darin, dass sie Macht-Strukturen aufgezeigt hat: „Machtstrukturen in der Beziehung, in der Gesellschaft. Darüber zu reden war bis dahin Tabu.
Wir wären also heute nicht soweit, hätte es 1968 nicht gegeben“, ist Perner überzeugt.
Hannes Etzlstorfer war im Mai 1968 neun Jahre alt. Er erinnert sich an durch Freistadt (Oberösterreich) rollende Panzer und das große Blumenbouquet, das den eigentlich unübersehbaren Baby-Bauch seiner großen Schwester bei der Hochzeit kaschieren sollte. „Das Happening im Juni im Audimax ist natürlich ein Skandal als punktuelles Ereignis. Im Bogen von Kokoschka und Schiele ist es eine logische Weiterentwicklung“, bot Etzlstorfer die entsprechenden Kontextualisierungen und erzählte von dem Experiment eines Mannes, der an 32 Verlage Fragmente von Kafkas „Mann ohne Eigenschaften“ schickte und nur von einem – einem Erotik-Verlag – eine positive Antwort bekam. Etzlstorfer erinnerte an das „Schmutz- und Schandcomité“ oder die „Liga gegen entartete Kunst.“ „Was jemand 1968 gemacht, ist bis heute ein Reibebaum“, ist er sich sicher. Theaterstücke wie Heldenplatz hätten auch dermaßen hohe Wellen geschlagen, weil es kein Medium besser geschafft hat, die Affäre Waldheim auf den Punkt zu bringen. Ein Versagen will er der 1968er-Generation nicht vorwerfen, verweist jedoch auf die Ironie, dass Charles De Gaulle nach seinem mysteriösen Verschwinden und seiner Rückkehr als Ordnungsbringer auch wiedergewählt wurde.
Mit einer Reihe von Veranstaltungen gedenkt das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich den 8er-Jahren 1918, 1938 und 1948. Am Dienstag, den 12. Juni 2018 um 19.00, wird in Kooperation mit dem Filmarchiv Austria der österreichische Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von Hans Karl Preslauer mit Live-Musikbegleitung des Künstlerduos „Riturnell“ im Rahmen einer Bundesländer-Tournee gezeigt. Das nächste Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte“ mit Chris Lohner u. a. findet am 16. Oktober 2018 um 18.00 zum Thema: „1918-2018: Das Jahrhundert der Frauen“ statt.
Niederösterreichische Museum Betriebs GmbH
Kulturbezirk 5 | 3100 St. Pölten
Kritischer Blick und positive Bilanz beim siebenten Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte"
ST. PÖLTEN – Der Kunst- und Kulturhistoriker Hannes Etzlstorfer (Jahrgang 1959), die Theologin und Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner (Jahrgang 1944) und der Schriftsteller Peter Turrini (Jahrgang 1944) waren die Gäste beim siebenten Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte“ im Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich. Nach einer Begrüßung von Benedikt Vogl, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hauses, diskutierte die lebhafte Runde im Gespräch mit Reinhard Linke, ob sich der Marsch durch die Institutionen, der auch in Österreich im Mai 1968 begann, gelohnt hat.
„Ich habe ganz unrevolutionär in einer Bimsstein-Fabrik gearbeitet und davon geträumt, von meinen Werken zu leben. Die Verlage haben gesagt, ich solle in der Bimssteinfabrik bleiben“, so Peter Turrini über seine Ausgangssituation im Mai 1968. Seinen ersten Gruppensex mit vier Männern und vier Frauen in einem Bett beschreibt er als „misslungen und schön“. Er war überzeugt, dass es die Mauer des Schweigens von Eltern und Lehrern zu durchbrechen galt: „Jede Frage war eine Irritation, weil es um den Wiederaufbau ging.“ Schon damals war ihm aber auch klar, dass Otto Mühl nicht den richtigen Weg ging und er verließ die Kommune nach sechs Monaten: „Ich wollte meine Qualen an der Kunst und nicht an den Menschen abarbeiten.“ Auf Mitstreiter habe er nie gewartet: „Ich habe mich nie gefragt, warum die anderen nicht aufgebracht sind, sondern: Bin ich aufgebracht genug?“ Ohne die Revolution in Frage zu stellen, erinnerte Turrini daran, dass der revolutionäre Tatendrang leider auch vor dem Leben der Menschen nicht Halt machte und erinnerte an die Terrorakte dieser Zeit.
„Als Niederösterreichische Landpomeranze in Wien hatte ich nicht das Glück, Schulfreundinnen zu haben“, schildert Rotraud Perner ihren Einstieg in die Szene, in der sich die Revolution abspielte. Über ihre wechselnden Beziehungen kam sie in die Kreise des Café Savoy, in dem Otto Mühl Hof hielt. Vieles, was damals passiert ist, kann sie heute analytisch verstehen, wenn auch nicht gutheißen. Zur so genannten „Uni-Ferkelei“ meint sie: „Ich hätte nicht mitgemacht und hatte auch kein Verständnis dafür.“ Um zu schockieren und Aufsehen zu erregen, gäbe es andere Wege. Allgemein wäre die Bedeutung von vielen Dingen erst später klar geworden: „Was damals gefehlt hat, waren Erklärungen.“ Den Verdienst der 1968er-Bewegung sieht sie darin, dass sie Macht-Strukturen aufgezeigt hat: „Machtstrukturen in der Beziehung, in der Gesellschaft. Darüber zu reden war bis dahin Tabu.
Wir wären also heute nicht soweit, hätte es 1968 nicht gegeben“, ist Perner überzeugt.
Hannes Etzlstorfer war im Mai 1968 neun Jahre alt. Er erinnert sich an durch Freistadt (Oberösterreich) rollende Panzer und das große Blumenbouquet, das den eigentlich unübersehbaren Baby-Bauch seiner großen Schwester bei der Hochzeit kaschieren sollte. „Das Happening im Juni im Audimax ist natürlich ein Skandal als punktuelles Ereignis. Im Bogen von Kokoschka und Schiele ist es eine logische Weiterentwicklung“, bot Etzlstorfer die entsprechenden Kontextualisierungen und erzählte von dem Experiment eines Mannes, der an 32 Verlage Fragmente von Kafkas „Mann ohne Eigenschaften“ schickte und nur von einem – einem Erotik-Verlag – eine positive Antwort bekam. Etzlstorfer erinnerte an das „Schmutz- und Schandcomité“ oder die „Liga gegen entartete Kunst.“ „Was jemand 1968 gemacht, ist bis heute ein Reibebaum“, ist er sich sicher. Theaterstücke wie Heldenplatz hätten auch dermaßen hohe Wellen geschlagen, weil es kein Medium besser geschafft hat, die Affäre Waldheim auf den Punkt zu bringen. Ein Versagen will er der 1968er-Generation nicht vorwerfen, verweist jedoch auf die Ironie, dass Charles De Gaulle nach seinem mysteriösen Verschwinden und seiner Rückkehr als Ordnungsbringer auch wiedergewählt wurde.
Mit einer Reihe von Veranstaltungen gedenkt das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich den 8er-Jahren 1918, 1938 und 1948. Am Dienstag, den 12. Juni 2018 um 19.00, wird in Kooperation mit dem Filmarchiv Austria der österreichische Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von Hans Karl Preslauer mit Live-Musikbegleitung des Künstlerduos „Riturnell“ im Rahmen einer Bundesländer-Tournee gezeigt. Das nächste Zeitzeugen-Forum „Erzählte Geschichte“ mit Chris Lohner u. a. findet am 16. Oktober 2018 um 18.00 zum Thema: „1918-2018: Das Jahrhundert der Frauen“ statt.
Niederösterreichische Museum Betriebs GmbH
Kulturbezirk 5 | 3100 St. Pölten