10. November 2019, um 11:00 Uhr im jüdischen Museum in der Dorotheergasse und
am 16. Jänner 2020 in der Bezirksvorstehung Brigittenau
Lektorin: Elisabeth Lutter
Hans Gamliels Geschichte ist ein Zeitzeugenbericht, ein ungewöhnlicher, fast möchte ich sagen, ein singulärer. Denn es ist einer der (viel zuwenigen) Berichte eines „Nachgeborenen der Shoah“, beginnend mit Erinnerungen aus der frühesten Kindheit des Dreijährigen, den seine Mutter als „U-Boot“ geboren hatte – Traumata in diesem Lebensabschnitt prägen sich mehr als spätere Erlebnisse unauslöschlich ein – und fortgesetzt durch die Alltagswahrnehmungen des älter werdenden Jungen. Sie lassen das Elend der überlebenden, durch Flucht staatenlosen Remigranten erahnen, die unwürdigen Lebensbedingungen im Obdachlosenheim, die tägliche Lebenswelt des Kindes im Nachkriegs-Wien ab 1945. Aus dieser Perspektive ist Gamliels Bericht auch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, wie sie so detailreich und komplex nicht oft dargestellt wird.
Ich habe den Verfasser in den ersten beiden gemeinsamen Schuljahren im Wasagymnasium kennengelernt – und dann für Jahrzehnte aus den Augen verloren. Erst um den 50. Geburtstag der einstigen Klassenkameraden haben wir einander durch die Initiative einer ebenfalls jüdischen Schulfreundin als Erwachsene wiedergesehen. Den Kontakt mit Hans Gamliel habe ich seither lose aufrechterhalten. Das war wohl auch der Grund, warum er mir eines Tages seine Lebenserinnerungen geschickt und deren Lektorat anvertraut hat –wissend, dass die deutsche Sprache und die Philologie immer schon mein besonderes Interessensgebiet waren. Als beinahe jahrgangsgleich, sind auch mir die Eindrücke der frühesten Kindheitsjahre – Bomben, Besatzung, Flucht, Kriegsgefangenschaft des Vaters, die Not und der Mut der alleinstehenden Mutter –tief in die Erinnerung eingeprägt. Vieles, was Hans Gamliel berichtet, habe ich in denselben Elendsjahren der Nachkriegszeit selber erlebt und beobachtet, oder es ist mir durch seine Schilderungen wieder ins Bewusstsein getreten.
Es mag beim Lesen von Gamliels Erinnerungen scheinen, als käme er plaudernd „vom Hundertsten ins Tausendste“ – sein Bericht hat trotz der groben Kapitel-Einteilung keine professionelle Strukturierung. Aber dafür eine schier unerschöpfliche Fülle an Details, aus der mehr oder weniger reflektierten Sicht des Kindes und dann des Heranwachsenden. Bemerkenswert ist dabei Gamliels fast akribisches Bemühen, auch (spätere) Hintergrundsinformationen zum Berichteten einzubeziehen, seien es Sachverhalte oder Personendaten. Dass seine Sprache trotz des Abbruchs der Schule so gewählt ist, darf man auf seine Mutter und ihre Herkunft aus dem Bildungsbürgertum zurückführen.
Dem ehrenden Andenken vor allem dieser Mutter ist die Niederschrift der Erinnerungen Gamliels gewidmet. Sie hat als Einzige der einst zahlreichen, polyglotten Wiener Großbürger-Familie den Holocaust überlebt. Ihre beiden Kinder haben durch die unverbrüchliche Liebe dieser Mutter trotz Verfolgung und Not eine positive Weltsicht gelernt, sie sind trotz Einschränkungen und Rückschlägen selbstbewusste Erwachsene geworden
Um Gamliels Worte aufzugreifen: „Wir haben viel zu spät und viel zu wenig gefragt…- er hat uns mit seinen Erinnerungen viele Antworten auf nicht gestellte Fragen gegeben und damit das Wissen um auch unsere frühen Jahre mit vielen Beobachtungen bereichert, aus (für die meisten) ungewohnter Perspektive. Für die Friedensgenerationen unserer Kinder und Enkel eine vielleicht unspektakuläre, aber berührende, sehr persönliche Lektüre!
am 16. Jänner 2020 in der Bezirksvorstehung Brigittenau
Lektorin: Elisabeth Lutter
Hans Gamliels Geschichte ist ein Zeitzeugenbericht, ein ungewöhnlicher, fast möchte ich sagen, ein singulärer. Denn es ist einer der (viel zuwenigen) Berichte eines „Nachgeborenen der Shoah“, beginnend mit Erinnerungen aus der frühesten Kindheit des Dreijährigen, den seine Mutter als „U-Boot“ geboren hatte – Traumata in diesem Lebensabschnitt prägen sich mehr als spätere Erlebnisse unauslöschlich ein – und fortgesetzt durch die Alltagswahrnehmungen des älter werdenden Jungen. Sie lassen das Elend der überlebenden, durch Flucht staatenlosen Remigranten erahnen, die unwürdigen Lebensbedingungen im Obdachlosenheim, die tägliche Lebenswelt des Kindes im Nachkriegs-Wien ab 1945. Aus dieser Perspektive ist Gamliels Bericht auch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, wie sie so detailreich und komplex nicht oft dargestellt wird.
Ich habe den Verfasser in den ersten beiden gemeinsamen Schuljahren im Wasagymnasium kennengelernt – und dann für Jahrzehnte aus den Augen verloren. Erst um den 50. Geburtstag der einstigen Klassenkameraden haben wir einander durch die Initiative einer ebenfalls jüdischen Schulfreundin als Erwachsene wiedergesehen. Den Kontakt mit Hans Gamliel habe ich seither lose aufrechterhalten. Das war wohl auch der Grund, warum er mir eines Tages seine Lebenserinnerungen geschickt und deren Lektorat anvertraut hat –wissend, dass die deutsche Sprache und die Philologie immer schon mein besonderes Interessensgebiet waren. Als beinahe jahrgangsgleich, sind auch mir die Eindrücke der frühesten Kindheitsjahre – Bomben, Besatzung, Flucht, Kriegsgefangenschaft des Vaters, die Not und der Mut der alleinstehenden Mutter –tief in die Erinnerung eingeprägt. Vieles, was Hans Gamliel berichtet, habe ich in denselben Elendsjahren der Nachkriegszeit selber erlebt und beobachtet, oder es ist mir durch seine Schilderungen wieder ins Bewusstsein getreten.
Es mag beim Lesen von Gamliels Erinnerungen scheinen, als käme er plaudernd „vom Hundertsten ins Tausendste“ – sein Bericht hat trotz der groben Kapitel-Einteilung keine professionelle Strukturierung. Aber dafür eine schier unerschöpfliche Fülle an Details, aus der mehr oder weniger reflektierten Sicht des Kindes und dann des Heranwachsenden. Bemerkenswert ist dabei Gamliels fast akribisches Bemühen, auch (spätere) Hintergrundsinformationen zum Berichteten einzubeziehen, seien es Sachverhalte oder Personendaten. Dass seine Sprache trotz des Abbruchs der Schule so gewählt ist, darf man auf seine Mutter und ihre Herkunft aus dem Bildungsbürgertum zurückführen.
Dem ehrenden Andenken vor allem dieser Mutter ist die Niederschrift der Erinnerungen Gamliels gewidmet. Sie hat als Einzige der einst zahlreichen, polyglotten Wiener Großbürger-Familie den Holocaust überlebt. Ihre beiden Kinder haben durch die unverbrüchliche Liebe dieser Mutter trotz Verfolgung und Not eine positive Weltsicht gelernt, sie sind trotz Einschränkungen und Rückschlägen selbstbewusste Erwachsene geworden
Um Gamliels Worte aufzugreifen: „Wir haben viel zu spät und viel zu wenig gefragt…- er hat uns mit seinen Erinnerungen viele Antworten auf nicht gestellte Fragen gegeben und damit das Wissen um auch unsere frühen Jahre mit vielen Beobachtungen bereichert, aus (für die meisten) ungewohnter Perspektive. Für die Friedensgenerationen unserer Kinder und Enkel eine vielleicht unspektakuläre, aber berührende, sehr persönliche Lektüre!