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SWC 2017: Ruhmreiche/lose Opfer? Die Paradigmen der europäischen Gedächtnispolitik hinterfragen

Datum & Uhrzeit: 27. - 28.11.2017

Veranstaltungsinfos

Zeit: 27. - 28.11.2017


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Der Kult des Märtyrertums verfügt in der europäischen Kultur über eine jahrhundertlange Tradition. Die Verehrung toter Helden wurde schließlich im 19. Jahrhundert ein tragendes Element der Nationswerdung(en), setzte aber den Fokus nunmehr nicht mehr auf den heldenhaften Oberbefehlshaber, sondern auf den leidenden kleinen Soldaten. Diese Umstellung schuf gemeinsame, europaweit ähnliche Rituale und Ikonographien des Leidens für die Nation, eröffnete aber so gleichzeitig auch ein wahres Schlachtfeld für Rivalitäten unter den einzelnen Nationen.
Im Gemetzel des Ersten Weltkriegs war diese heroische Konstruktion des Märtyrertums zwar mehr und mehr der Konkurrenz ausgesetzt, letztlich führten aber diese sich wechselseitig ausschließenden, miteinander brutal wetteifernden Prozesse der Nationsbildung(en) – die von Anfang an viele Gruppen (wie Frauen, ethnische oder religiöse Minderheiten) marginalisiert hatten – zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust, zur sozialen, politischen und im Ende industriellen Vernichtung von Menschen.


Im Kontext des Wiederaufbaus Europas gedachte man unmittelbar nach 1945 der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden fast ausschließlich im Rahmen der großen Erzählung des antifaschistischen Widerstands. Dies schuf die Auffassung eines nationalen (manchmal antifaschistischen) Martyriums und leugnete damit die Besonderheit des jüdischen Leids, klammerte den Holocaust aus den einzelnen nationalen Geschichten aus. Mit dem Ende des Kalten Kriegs in den späten 1980er-Jahren und dem Verblassen ideologischer Grenzen verlor aber das Narrativ des antifaschistischen Widerstands seine Glaubwürdigkeit – vor allem als klar wurde, dass es die traumatische und schreckliche Erfahrung der Schoah nicht wirklich erfassen oder gar zu deren Überwindung etwas beitragen konnte. Die Anerkennung des Opfertums, der unpolitischen Opfer wurde nun zum zentralen Moment des Diskurses.


Im Gefolge dieses Paradigmenwechsels geriet nun der Holocaust zum allgemein anerkannten und akzeptierten transnationalen, also europäischen Ereignis, und musste so als symbolischer ‘Container’ für die Definition einer europäischen Identität dienen. Dies produzierte so eine hegemoniale, ausschließende, am Zentrum orientierten – und damit auch äußerst verwundbaren – Diskurs europäischer Identität: dies obwohl der Holocaust, vor allem an den Peripherien des Kontinents, schon immer von anderen historischen Traumata konkurrenziert worden war und wurde, sei es durch den Stalinismus, den Spanischen oder Griechischen Bürgerkrieg, die irische Hungersnot.
Ziel der Konferenz ist es, die dominanten Narrative über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, der Vorläufer und Folgen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, aber auch mittels der Auslotung nationaler oder gruppenspezifische Opferdiskurse zu einem tieferen Verständnis der Ausbildung europäischer Identitäten beizutragen.
Den Eröffnungsvortrag wird Daniele Giglioli, Autor des Buches Die Opferfalle von der Università degli Studi di Bergamo halten.


 27. November 2017, 09:00
bis 29. November 2017


Palais Epstein, Dr.-Karl-Renner-Ring 3, 1010 Wien